20.6.04

"Ich liebe nicht alle, sondern jeden" - Madonna mit dem Kind, heidnische Heilige, die Schleswig-Holsteinische Venus, die große Amouröse, Dirne, Sirene, Vollweib, femme fatale, die tolle Gräfin, Skandalgräfin, Humoristin, die Dame von Welt, Königin der Bohème, Virtuosin des Lebens und der Geselligkeit, die Schwabinger Chronistin, die Inkarnation der erotischen Rebellion.

Vor allem die Art und Weise, wie sie - gerade als Frau - ihren recht abenteuerlichen und individuellen Lebensstil kultivierte, ist auch heute noch faszinierend. Sie war darin äußerst radikal und überzeugend souverän. Reventlow theoretisierte nicht so sehr über die "freie Liebe", sondern lebte sie. Als Frau war sie für die Bohèmiens das Idealbild einer "freien Frau". Sie verkörperte für viele widersprüchliche Eigenschaften wie Selbstbewußtsein und sexuelle Unbefangenheit, mütterliche Fürsorglichkeit und Selbständigkeit harmonisch in sich vereint.

Erich Mühsam bezeichnete sie als den "innerlich freiesten und natürlichsten Menschen, dem ich begegnet bin". Und an anderer Stelle bewundert er ihre "zur Genialität gesteigerte Fähigkeit..., Glück zu genießen".

Im folgenden will ich das Leben und Denken von Franziska zu Reventlow etwas ausführlicher darstellen, da sie eine der bedeutesten, schillernsten und komplexesten Frauengestalten um die Jahrhundertwende war und deshalb auch große Beachtung finden soll.

Interessant ist auch, daß sie als Jugendliche von den Werken des Philosophen Friedrich Nietzsche und des norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen (1828-1906) tief beeindruckt war. Gerade Ibsen ist mit seinen Dramen ein Meister in der Aufdeckung der bürgerlichen Lebenslügen, der ehelichen Doppelmoral und der Frauenrechte. Und auch von Nietzsches Philosophie war Reventlow begeistert, der bei ihr wie ein Erdbeben gewirkt habe. So wurde z.B. Nietzsches Immoralismus im Namen des Lebens bei Reventlow ein Immoralismus im Namen der "freien Liebe", was sie als tiefste Lebensbejahung begriff.

"Das Christentum hat statt deßen die Einehe und – die Prostituzion geschaffen. Leztere ist ein Beweis dafür, daß die Ehe eine mangelhafte Einrichtung ist. In einem Teil der Frauen sucht man von Jugend auf durch die christlich-moralische Erziehung das Geschlechtsempfinden abzutöten oder man verweist sie auf die Ehe mit der Behauptung, daß die Frau überhaupt monogam veranlagt sei. Gleichzeitig richtet man die Prostituzion ein, zwingt also den andern Teil der Frauen poligam zu sein, damit den Männern geholfen werde, für die wiederum die Ehe unausreichend ist. Der Geschlechtstrieb und seine Befriedigung überhaupt wird als ein notwendiges Uebel hingestelt, dem so oder so abgeholfen oder gesteuert werden müße. [..] So geht mir doch mit der Behauptung, die Frau sei monogam! - weil ihr sie dazu bringt, ja! Weil ihr sie Pflicht und Entsagung lehrt, wo ihr sie Freude und Verlangen lehren solltet. Weil ihr kein Schönheitsgefühl im Leibe habt. Was ist denn ästhetischer und im wahren Sinne moralischer: wenn ihr euere blühenden Mädchen zu abgestorbenen Gespenstern macht und euere Söhne in Bordell schickt, oder wenn ihr sie sich miteinander in der Schönheit ihres Lebens freuen laßt."

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